Sammlungspräsentation

MIX & MATCH

Die Sammlung neu entdecken

Pinakothek der Moderne | Kunst
15.09.2022 — 31.12.2025
Säle 1-17, 27-33, 35

Zum 20-jährigen Jubiläum der Pinakothek der Moderne präsentiert sich die Sammlung Moderne Kunst neu auf 3.600 qm Ausstellungsfläche mit rund 350 Werken von mehr als 150 Künstler:innen. Unter dem programmatischen Ausstellungstitel MIX & MATCH begegnen sich Malerei, Skulptur, Grafik, Fotografie und Videokunst erstmals in epochen- und medienübergreifenden Themenräumen. Kunstwerke aus 120 Jahren eröffnen in unkonventionellen Gegenüberstellungen lebendige Perspektiven auf zentrale Fragestellungen unserer Gegenwart.

Seit der Eröffnung der Pinakothek der Moderne 2002 haben sich nicht nur die Sammlungsbestände vergrößert und erweitert. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen überdenkt die Institution Museum vielfach ihre Kernaufgaben und Ausstellungspraxis. Im Zuge von Globalisierung und Vernetzung besteht der Wunsch nach einer Revision des eurozentristischen und nordamerikanischen Kanons. Das Bewusstsein für eine Kunstgeschichte der Wieder- und Neuentdeckungen ist geweckt.

Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen während der vergangenen zwanzig Jahre haben für die Sammlung Moderne Kunst nicht nur eine willkommene Verjüngung und Internationalisierung mit sich gebracht, sondern auch eine bewusste Erweiterung der ehemals ausschließlichen Gemäldesammlung um die Bereiche Skulptur, Installation, Fotografie und Zeitbasierte Medien. Ein Meilenstein für die Ausweitung der fotografischen Bestände um die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war 2010 die Angliederung der Stiftung Ann und Jürgen Wilde. Die jüngst aufgenommene Kooperation mit der Written Art Collection verbreitert das Spektrum der Sammlung um Kulturräume des Nahen und Mittleren Ostens sowie Ostasiens.

Der neue Sammlungsrundgang beleuchtet Inhalte, die für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts von zunehmender Relevanz sind – wie sozialer Zusammenhalt, Migrationsbewegungen, neue Formen der Arbeit oder Umweltfragen. Aber auch kunsthistorisch traditionsreiche Gattungen und Motive wie der Akt, das Selbstporträt oder Naturbilder bis hin zu ästhetischen Konzepten des Anti-Akademischen oder des Spirituellen werden von Künstlerinnen und Künstlern neu befragt.

Als gattungs- und epochenübergreifende Präsentation folgt MIX & MATCH sowohl der interdisziplinären Gründungsidee der Pinakothek der Moderne als auch dem Bewusstsein für Diversität und Wandel in unserer unmittelbaren Gegenwart. Entsprechend ist MIX & MATCH auch keine statische Präsentation. Empfindliche Werke auf Papier oder textile Arbeiten werden in regelmäßigen Abständen ausgewechselt. Durch diese Umhängungen entstehen neue Dialoge und es können deutlich mehr Exponate aus den reichen Sammlungsbeständen gezeigt werden; einige von ihnen sind bislang noch nie präsentiert worden. Ein wiederholter Besuch ist daher lohnenswert.

Unter den Künstler:innen des Jubiläumsjahres sind:

Herbert Achternbusch, Bas Jan Ader, Etel Adnan, Siegfried Anzinger, Ida Applebroog, Joannis Avramidis, Monika Baer, Lewis Baltz, Georg Baselitz, Bernd & Hilla Becher, Max Beckmann, Laurenz Berges, Benjamin Bergmann, Joseph Beuys, Aenne Biermann, Karl Blossfeldt, Alighiero Boetti, André Butzer, Heinrich Campendonck, Lovis Corinth, David Claerbout, Robert Delaunay, Rineke Dijkstra, Peter Doig, César Domela, Carroll Dunham, Tracey Emin, Dan Flavin, Max Ernst, Omer Fast, Lee Friedlander, Otto Freundlich, Franz Gertsch, Rupprecht Geiger, Carl Grossberg, Katharina Grosse, Andreas Gursky, Hans Hartung, Haubitz + Zoche, Florence Henri, Jenny Holzer, Axel Hütte, Alexej Jawlensky, Asger Jorn, Wassily Kandinsky, On Kawara, Mike Kelley, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Jochen Klein, Oskar Kokoschka, Helmut Kolle, Käthe Kollwitz, Germaine Krull, Marie-Jo Lafontaine, Bo Christian Larsson, Maria Lassnig, Wilhelm Lehmbruck, Eva Leitolf, Zoe Leonard, Carl Lohse, August Macke, René Magritte, Mark Manders, Franz Marc, Henri Matisse, Jonathan Meese, Stephan Melzl, Olaf Metzel, Giorgio Morandi, Otto Mueller, Nicholas Nixon, Henrik Olesen, Martin Parr, Beate Passow, A. R. Penck, Paul Pfeiffer, Pablo Picasso, Adrian Piper, Sigmar Polke, Carl Theodor Protzen, Neo Rauch, Franz Radziwill, Albert Renger-Patzsch, Germaine Richier, Gerhard Richter, August Sander, Christian Schad, Josef Scharl, Oskar Schlemmer, Michael Schmidt, Bernard Schulze, George Segal, Friedrich Seidenstücker, Tschabalala Self, Gino Severini, Renée Sintenis, Thomas Steffl, Norbert Tadeusz, Rosemarie Trockel, Luc Tuymans, Andy Warhol, Jeff Wall, Fritz Winter, Amelie von Wulffen, Stefanie Zoche u. v. m.

Die Neueinrichtung der Säle wurde durch zahlreiche „Raumpatenschaften“ ermöglicht. Ihnen gilt ein herzlicher Dank für die großzügige Unterstützung.

Gefördert durch: 
Allianz; Atoss Software AG; Karin und Roland Berger; Deutsche Invest Capital Partners; DJE Kapital AG; goetzpartners, Herbert Schuchardt Stiftung; International Patrons of the Pinakothek e.V.; Martina und Florian Kurz; PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e.V.; Ragaller Gruppe Deutschland; Dr. Helmut Röschinger; Theo Wormland Stiftung; VHV Stiftung; Adelhaid Winterstein; Written Art Collection

Medienpartner:
ARTE, egoFM, Süddeutsche Zeitung

#PinaMixAndMatch 

Saaltexte

Hier finden Sie die Saaltexte zu MIX & MATCH:

Den Auftakt des Rundganges bilden zwei Werke, zwischen deren Entstehung mehr als acht Jahrzehnte liegen. August Mackes „Mädchen unter Bäumen“ entstand 1914, wenige Wochen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Mit leuchtenden Farben inszeniert der Künstler die heitere Stimmung eines Sommertages im Park.
David Claerbout hingegen verwendet für seine Videoarbeit eine historische Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigt den Kindergarten Sant’Elia im italienischen Como, der in den 1930er Jahren nach Idealvorstellungen des faschistischen Rationalismus erbaut wurde.

In der konzentrierten Gegenüberstellung eines Gemäldes, das mit expressionistischer Farbgestaltung Bewegung suggeriert sowie einer in Bewegung versetzten Fotografie wird das Spannungsfeld deutlich, in dem sich die künstlerischen Ausdrucksmittel bewegen. Die ihnen eingeschriebenen, unterschiedlichen Zeitebenen verschmelzen miteinander. Sie erzeugen eine gleichermaßen sanfte wie beunruhigende, überzeitliche Atmosphäre.

Kindsein und Heranwachsen sind universelle Erfahrungen des Menschen. Als „unbeschwert“, „sorglos“, „wohlbehütet“ oder „schwer“ bewertet, wird die Kindheit als grundlegende Phase der Prägung für Identität und Persönlichkeit betrachtet. Erfahrungen von Geborgenheit, Bindung, Spiel und Lernen, aber auch von Abhängigkeit, Verlust oder Verletzung nehmen formenden Einfluss auf unseren Charakter. Als prägende Erlebnisse und tragende Erinnerungen bilden sie die Basis für unsere jeweils individuelle, aber auch kollektive Identität.

Auch wenn der Prozess des Wachsens und des Erwachsenwerdens von Konflikten und Reibung begleitet wird und die Balance von Sicherheit und Freiheit für alle Beteiligten eine Herausforderung ist: Kindheit bedeutet Aufbruch und Übergang. Sie steht für Hoffnung, für das Neue, das Zukünftige und das Unvorhersehbare und ist damit auch ein wiederkehrendes Thema in allen Kulturen und Künsten.

Miteinander oder gegeneinander? Allein oder gemeinsam? Mittendrin oder außen vor? Seit jeher hat die Kunst hinter die Kulissen von Machtmechanismen und Rollenspielen geblickt, in denen sich Gesellschaft spiegelt.

In jeder Gemeinschaft, ob politisch, familiär, freundschaftlich oder spontan gibt es Vereinbarungen, Codes und Regeln. Manche sind schriftlich fixiert, andere sind tradiert, von politischen Systemen und sozialen Verhältnissen geprägt. Ob explizit geäußert oder subtil spürbar gemacht, immer wieder wird definiert: Wer gehört dazu? Wer hat in einer Gruppe das Sagen? Wie bestimmen sich die Strukturen des Zusammenlebens?

Darstellungen von geselligem Beisammensein und gemeinschaftlicher Nähe stehen im Kontrast zu Bildgeschehen, in denen zwar mehrere Figuren vorkommen, die jedoch mit Dissonanz und Spannung aufgeladen sind.

Jeder Mensch ist anders! Jede Gesellschaft besteht aus vielen einzelnen Persönlichkeiten mit jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen, individuellen Biografien und eigenen Lebenskonzepten.

Es zählt bis heute zu den größten Herausforderungen eines Staates, den Bedürfnissen aller Menschen gleichermaßen gerecht zu werden. In diktatorischen Systemen wie dem Nationalsozialismus wurden Körper- und Geschlechterideale ideologisch definiert, normiert und von systemkonformen Künstler:innen propagiert. Gegen solche vereinfachenden und manipulativen Rollenbilder wie auch gegen einseitige Klischees und Moralvorstellungen haben kritische Künstler:innen bewusst offene Perspektiven entwickelt. Sie spiegeln die Vielfalt und Schönheit verschiedenster möglicher Identitäten und setzen ein Zeichen für Solidarität und Toleranz.

 

Um 1900 entwickeln sich in Europa Metropolen wie Berlin und Paris zu vibrierenden Mittelpunkten der industrialisierten Gesellschaft. Künstler:innen des Futurismus, Kubismus und Expressionismus wollen jetzt „all das Herrliche und Seltsame, das Monströse und Dramatische der Avenüen, Bahnhöfe, Fabriken und Türme hinkritzeln“ (Ludwig Meidner, 1914).

Die neuen Erfahrungen von Geschwindigkeit, Lärm, elektrischem Licht sowie die Präsenz moderner Glas- und Stahlarchitektur und die Gleichzeitigkeit der Eindrücke inspirieren Maler:innen und Fotograf:innen zu bahnbrechenden experimentellen Bildgestaltungen. Besonders in der Avantgardefotografie der 1920er und 1930er Jahre werden dynamische Perspektivsichten, extreme Bildausschnitte und ungewöhnliche Montagen bestimmend. In den 1970er Jahren bildete sich in den USA und Deutschland ein fotografischer Stil heraus, der die Stadt als vom Menschen umgestaltete Landschaft liest. Jegliche repräsentative Aufwertung oder Idealisierung tritt
zugunsten einer beschreibend dokumentarischen Darstellung von gewöhnlichen Alltagsmotiven zurück. Sie erlaubt den Betrachtenden, die Unvollkommenheit und Fragilität urbaner Lebenswelten zu erkennen.
 

Das Gehen und Kommen von Menschen bestimmt unser globalisiertes Gesellschaftsleben. Die Gründe für das Verlassen der eigenen Heimat sind vielfältig. Sie reichen von Neugierde und Fernweh über wirtschaftliche Nöte bis hin zu lebensbedrohlichen Gefahren, die von politischen Systemen oder Kriegen ausgehen. Die Entscheidung, in ein fremdes Land zu gehen und sich den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen, wird selten leichtfertig getroffen. Sie ist begleitet von Hoffnung und Mut.

Doch wird das Ankommen häufig durch systemische Diskriminierung erschwert, das Bleiben durch rassistische Denkmuster und gewaltvolle Akte immer wieder getrübt. Die Lebensrealitäten von migrierenden Menschen bewegen sich dadurch häufig fernab von denen, die an einem Ort die Mehrheit bilden.

„Was ist ein Wald? Gemischte Gefühle, … Entzücken und Bedrückung. … Lust frei zu atmen im offenen Raum, doch gleichzeitig die Beklemmung, ringsum von feindlichen Bäumen eingekerkert zu sein. Draußen und drinnen zugleich, frei und gefangen.“ (Max Ernst, 1959)

Die Faszination für den Wald, der seit Jahrhunderten menschlicher Kultivierung unterworfen ist, reißt auch in der Kunstgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts nicht ab. Der Wald ist Ort der Vitalität, der Freiheit und Sehnsucht, des Rückzugs und des Schutzes. Zugleich aber ist er spätestens seit der Romantik Schauplatz des Fantastischen, Unheimlichen und Verdrängten, der Angst und der Bedrohung.

Der Wald ist eine reizvolle Projektionsfläche für Widersprüchliches jenseits von Norm und Eindeutigkeit: Im scheinbar dschungelhaften Wuchern verbindet er die Gegensätze von Wachstum und Zerfall. Der Wald steht im künstlerischen Schaffen heute für einen kulturüberschreitenden Ort des Offenen, der Bewegung und des Übergangs.

Seit jeher leben wir in einem Verhältnis zur Natur, das von Abhängigkeit, Wertschätzung und Ausbeutung gleichermaßen geprägt ist. Doch das Zusammenwirken dieser Kräfte gerät zunehmend aus dem Gleichgewicht: Die rasant anwachsende Weltbevölkerung, eine sich ausbreitende Verstädterung und die rücksichtslose Zerstörung der Ökosysteme - etwa durch das Abholzen der Regenwälder - gefährden den natürlichen Lebensraum nicht nur der menschlichen Spezies.

Zugleich steigt das Bewusstsein für die Fragilität unseres Planeten; wir haben den nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen als eines der dringlichsten Zukunftsanliegen erkannt. Vor dem Hintergrund einer krisenhaften Gesamtsituation erscheint das traditionelle Motiv der Landschaft in der Kunst in neuem Licht. Die Auswirkungen von Umweltzerstörung und Klimawandel halten Einzug in das künstlerische Schaffen unserer Gegenwart.

Seit Beginn der Industrialisierung hat die Fabrik als Ort maschinengesteuerter Produktion das Verhältnis von Mensch und Arbeit grundlegend verändert. Dabei ist die Beziehung zu Technik und Technologie bis heute zwiespältig und wird bei allem Fortschrittsoptimismus nicht selten als Abhängigkeit verstanden. Diese Ambivalenz kommt auch in der Kunst zum Ausdruck.

In den 1920er Jahren entsteht ein neuartiges künstlerisches Genre: die Industrielandschaft. Zurückhaltende Emotionalität und kompositionelle Klarheit sind prägende Elemente von vordergründig kühlen, aber durchaus atmosphärischen Darstellungen in Malerei und Fotografie. Dieser sachliche Blick wandelt sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Mit dem wirtschaftlichen Umbau, der Hinwendung zu erneuerbaren Energien und dem langsamen Verschwinden der herkömmlichen Industrieanlagen und Arbeitsprozesse werden die Relikte einer aussterbenden
Arbeitskultur selbst zum Keim für kreative Produktivität. Die „Factory“ wird zur poetischen und auch melancholischen Metapher für die aktive Gestaltung des eigenen Lebens.

Die Videoinstallation EMPIRE zeigt, wie eine Wespenkönigin anfangs allein, später gemeinsam mit ihren Arbeiterinnen im Verlauf von 90 Tagen ein Nest baut und darin ihre Eier ablegt. Aus der immer gleichen Perspektive ist in Echtzeit – ohne jeden Schnitt oder Zeitraffer – zu beobachten, wie der kleine Wespenstock Wabe um Wabe heranwächst – ein Prozess, der von klarer Arbeitsaufteilung innerhalb des Machtgefüges gesteuert ist.

„Ob Gewalt ein Teil der menschlichen Natur ist und ob es diese Natur ist, die Menschen dazu bringt, sich fast routinemäßig gegenseitig zu foltern, zu quälen und umzubringen?“, fragt die Künstlerin Jenny Holzer.

Konflikte und Gewalt – ob physisch oder psychisch – sind seit jeher Teil unseres Daseins. Der technische Fortschritt ab dem beginnenden 20. Jahrhundert hat sowohl die Kriegsführung wie auch die mediale Dokumentation und die damit verbundene Sichtbarkeit massiv verändert.

Zugleich sind Formen von Gewalt, die sich im Privaten äußern, unabhängig von Herkunft, Alter oder Geschlecht bis heute oftmals ein Tabu, das mit Scham und Verlustängsten verbunden ist. Künstler:innen nähern sich dem Thema auf vielfältige Art und Weise an. Sie setzen sich mit Konflikten sowie mit direkter als auch subtiler Gewalt auseinander und machen die Konsequenzen für die Gesellschaft wie auch für das Individuum sichtbar.

Das eigene Selbst darzustellen, ist im Zeitalter von Social Media zum Alltagsphänomen geworden. Dabei lässt sich das famose „Selfie“ in eine jahrhundertelange Tradition des Selbstporträts einordnen. Wie inszenieren wir uns? Welche Facetten präsentieren wir? Zeigen wir die Schokoladen- oder Schattenseite unseres Antlitzes – oder beide?

In der bildenden Kunst aller Epochen begreift das Selbstbildnis das eigene Ich nicht nur als Spiegel der Persönlichkeit. Es verweist immer auch auf eine Weltsicht, die vom dargestellten Ich ausgeht. Das Selbstporträt bietet Einblick in die psychische Verfassung, aber auch in den historischen Kontext der Künstler:innen. Die mannigfaltigen Identitäten oder auch die Bruchstücke, der uns in Selbstbildnissen begegnenden „Ichs“, werfen den Blick zurück auf uns selbst, und erlauben uns, die Eigenwahrnehmung zu schärfen.

Von feisten Putti in barocken Fresken über athletische Helden als klassizistische Skulpturen bis zur Femme Fatale in symbolistischen Gemälden artikuliert sich der Akt in allen Zeiten als eine der beliebtesten Gattungen in der Geschichte der Kunst.

Verehrung, Idealisierung, Fetisch oder Erniedrigung – der Umgang mit dem nackten Körper ist immer mehrdeutig. Dies drückt sich auch in der mannigfaltigen Hinwendung der Künstler:innen des 20. Jahrhunderts zum Akt aus. Die Kunst der Gegenwart etabliert einen zunehmend kritischen Blick; sie hinterfragt voyeuristische Machtstrukturen und konterkariert normative Körperideale.

Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts wandten sich viele Künstler:innen gegen die von Akademien vermittelte, technisch perfekte und sorgfältig ausgeführte Malerei. In ihren Augen führte eine virtuose Künstlichkeit dazu, sich vom Wesentlichen der bildlichen Darstellung zu entfernen. Neues konnte für sie nur entstehen, indem mit Traditionen und überlieferten Regeln gebrochen wurde.

Dafür entwickelte die Moderne neue Ausdrucksformen oder wertete offenere Formen auf, von der Skizze über die Collage bis hin zur Übermalung und Verarbeitung von Bildquellen aus Alltags- und Trivialkultur. Heftige Gesten, grelle Farben und provozierend ambivalente Formen wollen nicht mehr bedingungslos gefallen, sie betonen die authentische Darstellung von Lebenserfahrungen. Gerade jüngere Künstler:innengenerationen verweigern sich einer berechenbaren, maßvollen Ästhetik und sehen in kraftvollen, auch bewusst übertriebenen Ausdrucksformen ein neues visuelles Potenzial. Vielleicht wecken Zeiten eines umfassenden Optimierungsdenkens und zunehmend rationalisierter Alltagsabläufe auf ganz besondere Weise den Wunsch nach unangepasster Vitalität?

Die Anfänge der abstrakten Malerei im 20. Jahrhundert sind mit einem Interesse an der Ausdruckskraft von Kunst und der bewussten Abkehr von einer fortschrittsgläubigen Welt verbunden. In einer romantisch-naturphilosophischen Tradition suchten Künstler:innen, Quellen des Ausdrucks jenseits des Verstands zu aktivieren. Welche neuen Erfahrungen liegen außerhalb des Rationalen? Wie lassen sich verborgene, unterdrückte Energien und das Unkontrollierbare nutzen? Das Geistige, die Spiritualität und das Transzendente werden zu Zielen künstlerischer Produktion, Traum- und Fantasiewelten zu Leitmotiven.

„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ – schrieb Paul Klee und fasste in diesem Satz den erhabenen, geradezu religiösen Anspruch künstlerischer Offenbarung zusammen. Die Idee eines metaphysischen künstlerischen Schaffens, das hinter die Oberfläche der Dinge blickt und universale Gesetzmäßigkeiten und Wahrheiten zum Ausdruck bringt, entwickelte eine außerordentliche Sogwirkung und Bedeutung.

Die künstlerischen Versuche, das Nicht-Sichtbare und Irrationale ins Bild zu setzen, sind vielfältig und oft mit der Frage nach den Ursprüngen von Kreativität verbunden. Wie entsteht Inspiration für künstlerisches Schaffen?

Wurde in der Kunst zunächst mit großer Ernsthaftigkeit an der Darstellbarkeit des Geistigen und Unterbewussten geforscht, lässt sich im Lauf der Jahrzehnte ein Wandel beobachten: Bereits in den 1920er Jahren treibt der Surrealismus ein mitunter ironisches Spiel mit der Entstehung und Auflösung von Formen und irritiert die Erwartungen der Betrachtenden. Ab den 1960er Jahren verbreitet sich eine kritische Haltung gegenüber der geistig-spirituellen Tradition der Kunstgeschichte. Der Vorstellung des geheimnisvollen, vom Geniegedanken
geprägten Ursprungs von Kunst und sogenannten übersinnlichen Phänomenen wird zunehmend mit Humor begegnet. Der Absolutheitsanspruch der menschlichen Vernunft wird entmachtet und der entscheidende Einfluss von Emotionen auf unser vermeintlich rationales Denken erkannt.

Wie funktioniert Kommunikation? Sind Sender:innen und Empfänger:innen einer Botschaft immer gleichberechtigt? Verstehen alle, die miteinander im Austausch sind, eine Nachricht auf dieselbe Weise? Und ist das entscheidend?

Kunst ist eine der ältesten Formen der Kommunikation, denn Künstler:innen kommunizieren mittels ihrer Werke mit der Umwelt. Durch die Verfremdung vertrauter Kommunikationsinstrumente, durch unkonventionelle Bildkompositionen oder überraschende Materialien können sie beim Gegenüber Gedanken und Diskussionen anregen und auf diese Weise zur Entwicklung und kritischen Reflexion der Gesellschaft beitragen. Auch das Museum stellt in seinen Ausstellungen den Dialog mit dem Publikum in den Mittelpunkt. Denn Kunst lebt vom Austausch mit der Öffentlichkeit. Durch genaues Hinschauen und Zuhören wird Kommunikation auch als ein Prozess der Aushandlung gegensätzlicher Meinungen, Missverständnisse und Widersprüche erfahrbar.

Sammeln, klassifizieren, sortieren, gruppieren, strukturieren – es ist ein grundlegendes Bedürfnis der Menschen, die Welt zu ordnen und in kategorisierbare Sinneinheiten einzuteilen. Auch in der Kunst werden Ordnungsstrukturen und wiederkehrende Muster sichtbar: Archive, Reihungen, Serien, Sammlungen und Zyklen spiegeln über die rein formale Ebene hinaus die Auseinandersetzung mit demokratischen und sozialkritischen Ansätzen. Dabei tritt neben den Willen, Information konkret darzustellen, auch der Aufruf, Ordnungssysteme zu hinterfragen und in freier Assoziation weiterzuentwickeln.

Metropolen wie New York City und Mumbai, aber auch kleinere Hafenstädte vielerorts sind nicht selten dicht besiedelte Regionen. Sie grenzen an gewaltige Ozeane oder beschauliche Bodden, die Skylines und Bauwerke liegen oft unmittelbar am Wasser – nur wenige Meter über dem Meeresspiegel. Laut Prognosen werden im Zuge der globalen Erwärmung schon in naher Zukunft signifikante Gebiete vieler Küstenstädte von Sturmfluten und Überschwemmungen betroffen sein. Erste Auswirkungen sind schon heute zu beobachten.

Das Künstlerinnen-Duo Haubitz + Zoche setzte die drohende Gefahr in New York und Mumbai bereits 2014/15 szenisch ins Bild. Aber auch ältere Werke der Kunstgeschichte werden angesichts aktueller Klimadebatten anders gelesen als zum Zeitpunkt ihrer Entstehung.

Das Betrachten von Kunst regt nicht nur unsere Augen an. Neben dem Sehen können auch andere Sinneswahrnehmungen aktiviert werden, so scheinen manche Bilder eine klangliche Atmosphäre zu erzeugen. Oft knüpfen sich Sinneseindrücke an raue oder glatte Oberflächen, geschlossene und offene Umrisse, lichte und verdichtete Farbeindrücke. Sie lassen akustische oder haptische Assoziationen entstehen, stimulieren den Geruchs-, vielleicht sogar den Geschmackssinn.

Das sinnliche Erleben von Bildern steuert unsere emotionalen Empfindungen, und lässt uns oft – bevor wir uns dessen bewusst werden – spüren, ob wir von einem Kunstwerk angezogen werden oder nicht, ob es uns beunruhigt oder kalt lässt, tröstet oder positiv stimmt.

Den realen Raum in die Bildfläche eines Kunstwerkes übertragen – oder genau andersherum: das Kunstobjekt in den realen Raum versetzen – bei den hier gezeigten Werken geht es um das Wechselspiel der Verhältnisse im Raum.

In einer selbstreflexiven Erforschung der Möglichkeiten von Malerei, Plastik und Fotografie steht nicht mehr das Schaffen von räumlicher Illusion im Mittelpunkt, sondern die tatsächliche Neukonstruktion von Körpern und Raum. Es wird sowohl bekanntes Formenvokabular ausgelotet als auch das Raumgefüge fragmentiert und neu angeordnet.

Das Verhältnis von Körper im Bildraum steht dabei immer auch als Metapher für das Bezugssystem, in dem sich reale Körper im Raum befinden. Gerade Werke, die dem Minimalismus zugeordnet werden, machen dieses Verhältnis erfahrbar. Sie dienen als Erinnerung daran, dass sich ihr Körper auf der gleichen räumlichen Ebene befindet, wie der der Betrachter:innen – im Hier und Jetzt.

KARLA basiert auf dem Gespräch mit einer Person, die für die weltweit größte Online-Videoplattform im Bereich der Content Moderation und Videoanalyse arbeitet. Aufgrund der inhaltlichen Brisanz bleibt die Person anonym: Das Gesagte wird von einer Schauspielerin eingesprochen und unter Nutzung einer Gesichtserkennungstechnologie aufgezeichnet. In der holografischen Projektion verwandelt sich das Gesicht allmählich in andere Charaktere unterschiedlichen Geschlechts, Alters und Herkunft.

Die sich ergebende multiperspektivische Berichterstattung macht auf die unzähligen Personen aufmerksam, die täglich den Abgründen des Internets ausgesetzt sind und stundenlang jene Inhalte, die von Nutzer:innen oder Algorithmen als gefährlich oder anstößig markiert wurden, überprüfen und gegebenenfalls von den Plattformen entfernen.

Der Leere und dem Abwesenden ein Bild zu geben, klingt nach einem Widerspruch in sich. Wenn Künstler:innen im kreativen Schaffensprozess Farbe auftragen, Werkstoffe formen oder die Kamera auf ein Motiv richten, scheint es doch in erster Linie um das Abbilden oder Darstellen von Etwas zu gehen. Übermalen, Auslassen oder Andeuten, fragile Momente des Übergangs oder Spuren vergangener Zeiten Erfassen – es sind die leisen Zwischentöne, die zum Klingen kommen, wenn Flüchtiges eingefangen wird.

Der Gegensatz aus Präsenz und Absenz erzeugt eine Spannung, die sich nicht allein innerhalb der Werke aufbaut. Zugleich wird spürbar, wie die Leere einen ganzen Raum füllen kann.

Was ist ein Kunstmuseum? Auf den ersten Blick ist es ein Haus voller Bilder, denen die Museumsbesucher:innen begegnen, ähnlich der zentralen Figur auf dem Gemälde von Peter Doig. Zu erleben sind dort Ausschnitte der Welt, die Künstlerinnen und Künstler auf jeweils eigene Art und Weise festhalten. Bei genauerer Betrachtung geht es jedoch weniger um die gerahmten Inhalte, sondern um die Gedankenräume, die sich in der Auseinandersetzung mit Kunst öffnen.

Die Kunst mit ihrer Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten, oder wie im Fall von Dan Flavins Werk wortwörtlich über den Rahmen hinaus zu strahlen – ist das Thema dieses Raums. Unweigerlich damit verknüpft ist die eigene Wahrnehmung. Ob mit Vorwissen oder intuitiv, ob emotional oder intellektuell, die Erkenntnisse, die wir durch Kunst gewinnen können, sind so vielfältig wie die bunten Schattierungen, die das Leben bereithält.

In diesem Sinne lässt sich der Titel „House of Pictures“ nicht nur buchstäblich auf das Museum beziehen, sondern vor allem auf den Erinnerungsspeicher, den Resonanzraum persönlicher Erfahrungen, den jede:r mit sich trägt.

Statements des Teams der Sammlung Moderne Kunst

Oliver Kase, Sammlungsleiter Klassische Moderne / Sammlungsdirektor Sammlung Moderne Kunst:

Die bislang vorherrschende Präsentation von Meisterwerken der Klassischen Moderne, üblicherweise in mehr als einem Dutzend Sälen der Pinakothek der Moderne als Schwerpunkt der Sammlung gefeiert, weicht nun dem experimentellen Dialog mit anderen Medien und Epochen aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts. Durch diese Grenzüberschreitungen verspreche ich mir, das Publikum zu überraschen, Neugierde und Leidenschaft zu entfachen, es in seiner Reflexions- und Kritikbereitschaft anzuspornen. Den aktuellen multimedialen Rezeptionsgewohnheiten unserer Zeit entspricht diese Präsentation eher als eine voraussagbare Abfolge von Gemälderäumen.

Simone Förster, Sammlungsleiterin Stiftung Ann und Jürgen Wilde:

Das Sammler:innen- und Galerist:innenpaar Ann und Jürgen Wilde hat sich seit den 1960er-Jahren in seiner Arbeit und seinem Engagement für die Anerkennung der Fotografie als Kunst eingesetzt. Nicht zuletzt führte dies 2010 zur Angliederung ihrer Stiftung an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Mit der Beteiligung der Stiftung Ann und Jürgen Wilde an der gattungs- und epochenübergreifenden Neuhängung der Sammlung Moderne Kunst erfüllt sich in diesem Experiment also auch ein lang gehegtes Anliegen. Ich freue mich auf die Fotografie als eine weitere Stimme im vielsprachigen Dialog der Kunstwerke. Vielleicht wird sie in manchem Raum nur eine leise Anmerkung machen, in einem anderen hingegen eine laute These in die Debatte der Künste einwerfen.

Tatjana Schaefer, Assistenzkuratorin für Kunst ab 1945, Schwerpunkt amerikanische Kunst:

Im Gegensatz zu Bildwerken, die ein Fenster in einen Illusionsraum eröffnen, behaupten sich Minimal-Objekte im selben Raum wie die Betrachtenden. Aus dieser Diskrepanz resultiert die Herausforderung, Minimal Art mit Werken zu mischen, hinter denen ein anderes Bildverständnis steht. Die räumliche Erfahrbarkeit der Minimal Art wird dadurch aber nicht eingeschränkt oder ausgebremst. Ganz im Gegenteil. So verhelfen die an verschiedenen Punkten der Ausstellung platzierten Minimal-Werke dazu, die Besucher:innen immer wieder auch im Hier und Jetzt zu verorten, das Publikum also bewusst pendeln zu lassen zwischen dem Eintauchen in Bildwelten und der eigenen Vergegenwärtigung im Museumsraum.

Bernhart Schwenk, Sammlungsleiter Kunst ab 1960 und Gegenwartskunst:

In der Kunst sämtlicher Epochen spiegelt sich die Gegenwart. Zum einen war jedes Werk im Augenblick seiner Entstehung zeitgenössisch, zum anderen können wir auch ältere Kunst nicht anders verstehen als aus der Perspektive unserer Zeit. Die Annahme dieses Jetzt in jeglichem Kunstwerk ist aus meiner Sicht der große Reiz einer nicht chronologisch geordneten, generationsübergreifenden Ausstellung unserer Sammlung. Zudem gibt es verbindende Themen, die für Künstlerinnen und Künstler – unabhängig von der jeweiligen historischen, gesellschaftlichen oder politischen Situation – durchgehend von Bedeutung waren und sein werden. Kunst versucht immer, Konflikte spürbar zu machen, Balancen herzustellen oder Metaphern für existenzielle Fragen zu finden, wenngleich in jeder Zeit anders.

Franziska Kunze, Sammlungsleiterin Fotografie und Zeitbasierte Medien:

Natürlich ist es eine Herausforderung, den konservatorisch notwendigen Wechsel von fotografischen Werken in einem bestimmten zeitlichen Rhythmus einzuplanen, das Thema des Raumes immer wieder aufs Neue durch eine starke Auswahl zu diskutieren und dabei die benachbarten Arbeiten nicht aus dem Blick zu verlieren. Gleichzeitig sehe ich darin aber eine große Chance. Im Schnitt können Museen nur drei Prozent der Werke, die sie besitzen, ausstellen. Es ist die Spitze des Eisbergs, die sich vor den Besucher:innen auftut, während im Depot ungleich mehr Werke schlummern. Hier kann ich nun aus dem Vollen schöpfen, den Bestand unter verschiedenen Aspekten aktivieren und beim gemeinsamen Planen meinen Sammlungsbereich durch die Augen der anderen Kurator:innen noch einmal neu entdecken.

Judith Csiki, Kuratorin Written Art Collection:

Als öffentliche Kunstsammlung ist man unweigerlich an der Kanonbildung einer bestimmten Epoche beteiligt. Diese Kanonbildung erzeugt notwendigerweise Gewichtungen von Künstler:innen, Kunstströmungen, Medien und Kulturkreisen, wodurch an anderer Stelle wiederum Desiderate entstehen. Die Sammlung Moderne Kunst ist geprägt von einem Fokus auf die herausragenden, international bekannten Künstler:innen aus dem Westen. Seit mehreren Jahren wird dieser Fokus um Werke aus nichtwestlichen Kulturen erweitert, wozu auch die seit 2019 bestehende Zusammenarbeit mit der Written Art Collection einen wesentlichen Beitrag leistet. Ihr thematischer Akzent, der von kalligrafischer über gestische bis hin zu informeller Kunst reicht, korrespondiert auf vielfältige Weise mit dem Museumsbestand und eröffnet dadurch stets neue Perspektiven auf die einzelnen Sammlungsbereiche.

Die Kurator:innen der Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne (v.l.n.r.): Franziska Kunze, Tatjana Schäfer, Oliver Kase, Judith Csiki, Bernhart Schwenk und Simone Förster (Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Elisabeth Greil)

Vergangene Veranstaltungen

Rundgang

Pinakothek der Moderne I 1. Obergeschoss I Saaltitel MIX & MATCH

Weitere Informationen

Weitere Informationen zur Diskussion um den Raum Panoptikum finden Sie in unserem Blog.