Es ist nicht nur sein eindringlicher Blick, der uns in den Bann zieht. Auch die markanten Gesichtszüge des Lehrers prägen sich ein. Und tatsächlich entspricht der Charakterkopf des Humanisten dem Aussehen des venezianischen Universalgelehrten Trifone Gabriele (1470–1549), wie es in zeitgenössischen Quellen überliefert ist (z.B. in einer Porträtmedaille des Bildhauers und Medailleurs Danese Cattaneo). Von Zeitgenossen als „neuer Sokrates“ gefeiert, unterrichtete Trifone in Venedig und auf seinem Landsitz nahe Padua junge Männer aus wohlhabenden Familien. Schriften seiner Schüler überliefern das Wissen, das er ihnen auf dem Gebiet der Astronomie und Kosmologie vermittelte: etwa der Traktat La Spheretta („die kleine Kugel“), eine kurze Abhandlung, in der erklärt wird, wie sich die Himmelssphäre auf eine Ebene projizieren lässt – gewissermaßen die theoretische Lektion zur dargestellten Unterrichtsstunde, in der das Astrolabium auf dem Stundenplan steht: also jenes Messinstrument, mit dem man die sich verändernden Positionen wandernder Sternkonstellationen berechnen und zweidimensional abbilden kann.
Ausgehend von dieser Identifizierung lässt sich das Münchner Gemälde mit einem Werk Giorgiones in Verbindung bringen, das der Künstler und Kunstschriftsteller Giorgio Vasari (1511–1574) im Palazzo der Florentiner Familie Borgherini sah. In den Vite, den Biographien berühmter Künstler (1568), beschreibt er es im Detail als Bildnis des jungen Giovanni Borgherini mit seinem Lehrer aus Venedig. Tatsächlich belegen zeitgenössische Quellen, dass Giovanni Borgherini zu Trifones Schülern zählte. Und im Unterschied zu anderen Gemälden, die in der Forschung versuchsweise mit Vasaris Beschreibung in Verbindung gebracht wurden, passen im Fall des Münchner Gemäldes das Aussehen und Alter der dargestellten Persönlichkeiten zusammen: setzt man für das Münchner Gemälde eine Datierung um 1509/10 an – kurz vor dem frühen Tod Giorgiones –, ist der heranwachsende Giovanni im Alter von 14 bis 15 Jahren dargestellt, sein Lehrer Trifone (der ausweislich anderer Bildquellen bereits in jüngeren Jahren weitgehend kahl war) im Alter von etwa 40.
Da die Familie Borgherini bereits in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts erste Werke aus ihrem Palazzo verkaufte, ist es gut vorstellbar, dass das Gemälde schon früh auf den internationalen Kunstmarkt gelangte. Dieser bot beste Voraussetzungen für die Bemühungen der Wittelsbacher Herzöge, ihre Sammlung gezielt um italienische Meisterwerke zu erweitern. Zentrale Akteure dieses Marktes waren professionelle Agenten wie Jacopo Strada (1507–1588), der den bayerischen Herzog Albrecht V. in Kunstfragen beriet. Von Stradas Geschäftssinn zeugt unter anderem eine Angebotsliste mit einer Auswahl italienischer Gemälde, die er Mitte der 1570er Jahre nach München schickte und die sich im Bayerischen Hauptstaatsarchiv erhalten hat. Darauf ist unter anderem „1 alt Quatro [= Gemälde] von Giorgion de Castel Francho gemacht, mitt 2 figuren“ verzeichnet. Auch wenn sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen lässt, ob es sich dabei tatsächlich um das Doppelbildnis handelt, das erstmals sicher 1637 im Alten Schloss Schleißheim nachweisbar ist, sind die Quellen zu Provenienz und Sammlungsgeschichte sehr wichtige Bindeglieder in der Indizienkette unserer Spurensuche.